Der EuGH hat entschieden, dass eine Justizbehörde, die zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgerufen ist, von dieser absehen muss, wenn ihrer Ansicht nach für die betroffene Person wegen Mängeln, die die Unabhängigkeit der Justiz in dem Mitgliedstaat, der den Haftbefehl ausgestellt hat, beeinträchtigen können, die Gefahr bestünde, dass das Grundrecht dieser Person auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.
L.M. ist ein polnischer Staatsangehöriger, gegen den von den polnischen Justizbehörden drei Europäische Haftbefehle zum Zweck der Verfolgung illegalen Drogenhandels erlassen wurden. Nachdem er am 05.05.2017 in Irland verhaftet worden war, widersprach er seiner Übergabe an die polnischen Behörden, weil wegen der Reformen des polnischen Justizsystems die echte Gefahr bestehe, dass er in Polen kein faires Verfahren erhalte. In seinem Urteil Aranyosi und Căldăraru (EuGH, Urt. v. 05.04.2016 in den verbundenen Rechtssachen C-404/15 PPU und C-659/15 PPU) hatte der EuGH entschieden, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben ist, wenn die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass für die Person, gegen die sich der Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne der Charta der Grundrechte der Europäischen Union besteht. Ein solcher Aufschub ist allerdings erst nach einer zweistufigen Prüfung möglich. In einem ersten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde feststellen, dass in dem Mitgliedstaat, der den Haftbefehl ausgestellt hat, namentlich wegen systemischer Mängel eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht. In einem zweiten Schritt muss sich diese Behörde vergewissern, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die von dem Europäischen Haftbefehl betroffene Person einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Das Bestehen systemischer Mängel bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall die betroffene Person im Fall ihrer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
Im vorliegenden Fall möchte der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) vom EuGH wissen, ob die vollstreckende Justizbehörde, die mit einem Übergabeersuchen befasst ist, das zu einer Verletzung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren führen kann, gemäß dem Urteil Aranyosi und Căldăraru zum einen feststellen muss, dass wegen Mängeln des polnischen Justizsystems eine echte Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts besteht, und zum anderen, dass die betroffene Person einer solchen Gefahr ausgesetzt ist, oder ob es insoweit ausreicht, dass sie das Bestehen von Mängeln des polnischen Justizsystems feststellt, ohne prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der genannten Gefahr konkret ausgesetzt ist. Ferner möchte der High Court vom Gerichtshof wissen, welche Informationen und Garantien er gegebenenfalls von der ausstellenden Justizbehörde erhalten muss, um diese Gefahr auszuschließen.
Diese Fragen stellen sich im Kontext der von der polnischen Regierung betriebenen Justizreformen, die die Kommission dazu veranlasst haben, am 20.12.2017 einen begründeten Vorschlag abzugeben, mit dem der Rat aufgefordert wird, auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 EUV das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen festzustellen (Vorschlag vom 20.12.2017 für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen, COM(2017) 835 final). Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EUV lautet: „Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“
Der EuGH hat festgestellt, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine Ausnahme von dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt, darstellt und als solche eng auszulegen ist.
Bei Bestehen einer echten Gefahr, erleide die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht und damit werde der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet. Der vollstreckenden Justizbehörde könne gestattet sein, ausnahmsweise davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten. Insbesondere im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls sei die Wahrung der Unabhängigkeit der Justizbehörden von größter Wichtigkeit, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für den Einzelnen sicherzustellen.
Daraus folge, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde unter Berufung auf das Vorhandensein systemischer oder allgemeiner Mängel widerspreche, die ihrer Ansicht nach geeignet seien, die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat und ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren zu beeinträchtigen, in einem ersten Schritt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben beurteilen müsse, ob eine echte Gefahr der Verletzung dieses Rechts im Ausstellungsmitgliedstaat gegeben sei, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats aufgrund solcher Mängel zusammenhänge.
Dabei sieht der EuGH die Informationen in einem begründeten Vorschlag, der jüngst von der EU-Kommission auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 EUV an den Rat gerichtet wurde, als besonders relevante Angaben an. Das Erfordernis richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit umfasse zwei Aspekte. So müssten die betreffenden Einrichtungen erstens ihre Funktionen geschützt vor Interventionen oder Druck von außen in völliger Autonomie ausüben und zweitens unparteiisch sein, was bedeutet, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzten voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Gerichte sowie die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gebe. Das Unabhängigkeitserfordernis verlange außerdem, dass die Disziplinarreglung für die Mitglieder von Gerichten die erforderlichen Garantien aufweise, damit jegliche Gefahr verhindert werde, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werde.
Stelle die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie diese Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zum Maßstab nehme, fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr bestehe, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt werde, müsse sie in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein werde. Diese konkrete Prüfung sei auch dann geboten, wenn wie im vorliegenden Fall die Kommission in Bezug auf den Ausstellungsmitgliedstaat einen begründeten Vorschlag erlassen habe, der darauf gerichtet sei, dass der Rat feststellt, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung, und die vollstreckende Justizbehörde ihrer Ansicht nach über Angaben verfügt, die geeignet seien, systemische Mängel im Hinblick auf diese Werte zu belegen.
Um zu prüfen, ob für die gesuchte Person eine echte Gefahr bestehe, müsse die vollstreckende Justizbehörde untersuchen, inwieweit die systemischen oder allgemeinen Mängel sich auf der Ebene der Gerichte auswirken könnten, die für den Fall der gesuchten Person zuständig seien. Ergebe diese Untersuchung, dass die besagten Mängel die betreffenden Gerichte berühren könnten, müsse die vollstreckende Justizbehörde dann beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruhe, einer echten Gefahr ausgesetzt sein werde, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet werde.
Außerdem müsse die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig halte, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen. Dabei könne die ausstellende Justizbehörde jeden objektiven Gesichtspunkt betreffend etwaige Änderungen der Bedingungen des Schutzes der Garantie richterlicher Unabhängigkeit mitteilen, der geeignet sei, das Bestehen der besagten Gefahr für die betroffene Person auszuschließen.
Halte die vollstreckende Justizbehörde nach Prüfung all dieser Punkte eine echte Gefahr für gegeben, dass die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleide und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet werde, müsse sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 113/18
Eine Antwort hinterlassen