Das BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten bezüglich einer durch die Staatsanwaltschaft angeordneten nächtlichen Durchsuchung die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes konkretisiert.
Aus Art. 13 GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, zu sichern. Dieser muss bei Tage, das heißt zwischen 6 Uhr und 21 Uhr, uneingeschränkt erreichbar sein. Während der Nachtzeit ist ein solcher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht. Die Prüfung eines solchen Bedarfs haben die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung vorzunehmen. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
- Der Beschwerdeführer wurde an einem frühen Samstagmorgen, dem 14.09.2013, von Rettungskräften aufgefunden, die vermuteten, dass er Betäubungsmittel zu sich genommen hatte. Herbeigerufene Polizeibeamte betraten zum Zwecke der Suche nach Personaldokumenten und Hinweisen auf die Art der konsumierten Mittel dessen mit einem Mitbewohner geteilte Wohnung, während der Beschwerdeführer in ein Krankenhaus verbracht wurde. Im Zimmer des Beschwerdeführers fanden die Polizeibeamten unter anderem Cannabisprodukte. Aufgrund dieses Fundes sahen die Polizeibeamten einen Verdacht gegen den Beschwerdeführer wegen eines Betäubungsmitteldeliktes begründet. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Dass sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter zu erreichen, lässt sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der im Anschluss vollzogenen Durchsuchung des Zimmers des Beschwerdeführers und der Gemeinschaftsräume wurde Beweismaterial beschlagnahmt.
Die Anträge des Beschwerdeführers auf gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsmaßnahmen und die entsprechenden Beschwerden zum Landgericht blieben erfolglos. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde, die der Senat nur zur Entscheidung angenommen hat, soweit die zweite, durch die Staatsanwaltschaft angeordnete Durchsuchung betroffen ist. Hinsichtlich der ersten Durchsuchung der Wohnung auf polizeirechtlicher Grundlage hat der Beschwerdeführer den gesetzlichen Begründungserfordernissen nicht genügt. - Bei dem zuständigen Amtsgericht bestand im Jahr 2013 an Samstagen und dienstfreien Tagen ein richterlicher Bereitschaftsdienst in Form einer Präsenzbereitschaft im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr, an Sonn- und Feiertagen im Zeitraum von 11 Uhr bis 12 Uhr. Diese Bereitschaft dauerte jeweils auch nach 12 Uhr an, sofern zuvor durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei eilige Anträge angekündigt worden waren. Darüber hinaus war ein Bereitschaftsrichter an allen Wochentagen außerhalb der regulären Dienstzeit eingeteilt, sofern nach vorheriger Ankündigung durch die Polizei bei besonderen Lagen ein Bedarf an gefahrenabwehrrechtlichen richterlichen Entscheidungen bestand. Außerdem war ein richterlicher Rufbereitschaftsdienst eingerichtet, der jeweils nach Dienstende (montags bis donnerstags ab 16:15 Uhr; freitags ab 15 Uhr; samstags, sonntags und feiertags ab 12 Uhr) begann und bis 21 Uhr andauerte. Der Rufbereitschaftsdienst war nur zuständig für eilige strafprozessuale Maßnahmen und Entscheidungen im Einzelfall nach § 56 SOG M-V und § 40 BPolG.
Das BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten hin die eine durch die Staatsanwaltschaft angeordnete nächtliche Durchsuchung bestätigenden Gerichtsbeschlüsse aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
Nach Auffassung des BVerfG haben die Gerichte nicht geprüft, ob aus dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG eine Verpflichtung zur Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes für den maßgeblichen Zeitraum folgte.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
- Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem Gewicht dieses Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entsprechend behält Art. 13 Abs. 2 Halbsatz 1 GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vor. Der präventive Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Wohnungsgrundrechts und zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz. Zugleich 13 GG die Verpflichtung der staatlichen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts gewährleistet ist.
Wortlaut und Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG belegen, dass die richterliche Durchsuchungsanordnung die Regel und die nichtrichterliche die Ausnahme sein soll. Demgemäß ist der Begriff „Gefahr im Verzug“ im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG eng auszulegen. Die Strafverfolgungsbehörden müssen danach regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen. Die Annahme von Gefahr im Verzug kann nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlich zu einem bestimmten Zeitpunkt mangels Erreichbarkeit eines zuständigen Richters nicht zu erlangen. Gefahr im Verzug liegt in einem solchen Fall nur vor, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist. Damit korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, zu sichern.
Zu den Anforderungen an einen dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen Bereitschaftsdienst gehört die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden. Die Tageszeit umfasst dabei entsprechend den heutigen Lebensgewohnheiten ganzjährig die Zeit zwischen 6 Uhr und 21 Uhr. Während der Nachtzeit ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht. Der geringere nächtliche Bedarf folgt schon aus dem Umstand, dass Wohnungsdurchsuchungen nachts wegen des besonderen Schutzes der Nachtruhe nur ausnahmsweise zulässig sind. Dieser besondere Schutz der Nachtruhe hat seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 13 Abs. 1 GG. Nächtliche Durchsuchungen sind von Verfassungs wegen nur ausnahmsweise zulässig, weil eine Wohnungsdurchsuchung während dieser Zeit ungleich stärker in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift als zur Tageszeit. Stellt bereits die Durchsuchung der Wohnung bei Tage einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Wohnungsinhabers dar, sind bei einer nächtlichen Wohnungsdurchsuchung zusätzlich die Nachtruhe und die damit verbundene besondere Privatsphäre betroffen.
Dem hat der Gesetzgeber grundsätzlich auch Rechnung getragen. Gemäß § 104 Abs. 1 StPO dürfen Wohn- und Geschäftsräume sowie befriedetes Besitztum mit Ausnahme der in § 104 Abs. 2 StPO genannten Räumlichkeiten während der Nachtzeit im Sinne von § 104 Abs. 3 StPO nur bei Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen durchsucht werden. Gefahr im Verzug als in der Praxis häufigster Ausnahmefall liegt vor, wenn der Aufschub der Durchsuchung bis zum Tagesbeginn ihren Erfolg wahrscheinlich gefährden würde, beispielsweise, weil in der Zwischenzeit Beweismittel vernichtet werden könnten. Unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 GG folgt, dass – über die Regelung des § 104 Abs. 3 StPO hinaus – der Vollzug von Wohnungsdurchsuchungen ganzjährig zwischen 21 Uhr und 6 Uhr eingeschränkt ist. Daher kann für diese Zeit von einem regelmäßig deutlich geringeren Bedarf auch an Anordnungen von Wohnungsdurchsuchungen ausgegangen werden. Dies rechtfertigt es, einen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst in der Zeit von 21 Uhr bis 6 Uhr von Verfassungs wegen nur insoweit für geboten zu erachten, als ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen besteht. Soweit dies nicht der Fall ist, bleibt das in Art. 13 Abs. 2 GG statuierte Regel-Ausnahme-Verhältnis auch ohne die nächtliche Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters gewahrt.
Ob und inwieweit ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen die Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit erfordert, haben die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
- Diesen Maßstäben werden die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen nicht gerecht, soweit sie die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft als rechtmäßig erachtet haben.
Das Amtsgericht hat sich bereits nicht mit dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG auseinandergesetzt und nicht geprüft, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin wegen Gefahr im Verzug zur Anordnung der Durchsuchung berechtigt war. Es hat seine Entscheidung vom 30. Januar 2014 unzureichend nur mit dem Vorliegen eines Anfangsverdachts begründet.
Das Landgericht hat den Verfassungsverstoß nicht ausgeräumt. Es hat sich zwar mit der Frage befasst, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin ihre Zuständigkeit wegen Gefahr im Verzug annehmen durfte. Bei der Auslegung des Begriffs Gefahr im Verzug hat es die sich aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch nicht beachtet. Entgegen der von ihm vertretenen Auffassung konnte nicht dahingestellt bleiben, ob das Amtsgericht seiner aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG folgenden Verpflichtung zur Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes nachgekommen war.
Das Landgericht hat die Frage, ob Gefahr im Verzug vorlag, ausschließlich anhand der tatsächlichen Möglichkeiten der mit der Sache befassten Bereitschaftsstaatsanwältin und somit nur anhand der tatsächlichen Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht beurteilt. Es hat allein darauf abgestellt, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin davon ausgehen durfte, dass ein Zuwarten bis zum Beginn des vorhandenen richterlichen Bereitschaftsdienstes den Durchsuchungszweck gefährdet hätte. Ob das Amtsgericht verpflichtet war, einen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst für den Zeitraum einzurichten, in dem die Staatsanwältin mit der Sache befasst war, hat es dagegen für unmaßgeblich gehalten.
Der Verweis auf die tatsächliche Erreichbarkeit des ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes ist aber nur dann verfassungsrechtlich tragfähig, wenn die konkrete Ausgestaltung den Anforderungen von Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG genügt. Danach können Durchsuchungsanordnungen der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungspersonen nicht unter Berufung auf Gefahr im Verzug gerechtfertigt werden, wenn diese gerade aus der unter Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG unterbliebenen Einrichtung eines ausreichenden ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes resultiert. Zwar kann den Ermittlungsbehörden in einem solchen Fall keine Pflichtverletzung vorgeworfen werden; darauf kommt es indes auch nicht an. Denn die Verpflichtung, die Voraussetzungen für eine tatsächlich wirksame präventive richterliche Kontrolle zu schaffen, richtet sich an alle staatlichen Organe. Diese Verpflichtung könnte unterlaufen werden, wenn die Rechtmäßigkeit von Eingriffsmaßnahmen in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG letztlich mit einem dauerhaft Art. 13 Abs. 2 GG verletzenden Zustand der Gerichtsorganisation begründet werden könnte. Verletzen die Gerichtspräsidien ihre Pflicht zur Einrichtung eines das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 13 Abs. 2 GG wahrenden ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes und stützen die Ermittlungsbehörden ihre Anordnungskompetenz deswegen auf Gefahr im Verzug, führt dies zur Rechts- und Verfassungswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung.
Die Ausgestaltung der Bereitschaftsdienstzeiten bei dem zuständigen Amtsgericht im Jahr 2013 wurde den Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht gerecht. Am 14. September 2013 bestand – wie an allen anderen Samstagen auch – ein richterlicher Präsenzbereitschaftsdienst im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr, an den sich ein bis 21 Uhr dauernder Rufbereitschaftsdienst anschloss. Im Zeitraum zwischen 6 Uhr und 10 Uhr war dagegen kein Ermittlungsrichter erreichbar. Die – unabhängig vom konkreten Bedarf gebotene – uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, die ausnahmslos auch für Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage sicherzustellen ist, war auf diese Weise nicht gewährleistet. Ein Ermittlungsrichter hätte mindestens ab 6 Uhr erreichbar sein müssen. Der vom Landgericht irrtümlich angenommene Beginn des Bereitschaftsdienstes um 11 Uhr wäre demnach erst recht nicht geeignet gewesen, den Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu genügen.
Das Landgericht hätte sich daher mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Anordnung der Durchsuchung durch die Bereitschaftsstaatsanwältin am 14.09.2013 um 4:44 Uhr im Falle eines verfassungsgemäß eingerichteten ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes wegen Gefahr im Verzug gerechtfertigt gewesen wäre. Dabei hätte es vorliegend nahegelegen, zunächst zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft ohne Gefährdung des Durchsuchungszwecks bis zur hypothetischen, von Verfassungs wegen mindestens gebotenen Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters um 6 Uhr morgens hätte zuwarten müssen, um sodann eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu beantragen. Hätte das Landgericht dies verneint, weil die durch die Einholung der richterlichen Anordnung bedingte zeitliche Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung aus seiner Sicht gefährdet hätte, hätte es sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob für das Präsidium des Amtsgerichts angesichts des Bedarfs an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen Anlass bestanden hätte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zum Zeitpunkt der staatsanwaltlichen Durchsuchungsanordnung sicherzustellen.
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 22/2019 v. 29.03.2019
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