Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona hat seine Schlussanträge zur Pflicht der Justizbehörden, vor der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat zu prüfen, vorgelegt.
Der EuGH hat im Urteil vom 05.04.2016 (C-404/15 „Aranyosi“ und C-659/15 PPU „Căldăraru“) erstmals eine Einschränkung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung unter Mitgliedstaaten anerkannt, indem er von der vollstreckenden Justizbehörde verlangte, vor der Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat zu prüfen, falls der Betroffene aufgrund von Mängeln des Strafvollzugssystems dieses Staates einer echten Gefahr ausgesetzt sein könnte, eine gegen Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta verstoßende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.
Mit Urteil vom 04.07.2018 (C-220/18PPU „Generalstaatsanwaltschaft – Haftbedingungen in Ungarn“) hat der EuGH die Bedeutung und Tragweite der im Urteil „Aranyosi“ und „Căldăraru“ entwickelten Grundsätze präzisiert, insbesondere im Kontext der individuellen und gründlichen Beurteilung der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.
Im vorliegenden Fall ersucht das OLG Hamburg den EuGH insbesondere, die Intensität der Prüfung zu bestimmen, die die vollstreckende Justizbehörde vorzunehmen hat, um die echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu beurteilen, der die betroffene Person aufgrund ihrer Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt wäre, und die verschiedenen Faktoren und Kriterien zu definieren, die diese Justizbehörde bei dieser Beurteilung berücksichtigen muss. Dieses – einige Monate vor dem Urteil „Generalstaatsanwaltschaft“ beim EuGH eingegangene – Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen der durch die deutsche Justiz erfolgenden Prüfung, ob Herr Dumitru-Tudor D. an die rumänische Justiz, die einen Europäischen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hatte, übergeben werden darf.
Nach Ansicht von Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona beantwortet das Urteil des EuGH vom 04.07.2018 (C-220/18PPU „Generalstaatsanwaltschaft“) den überwiegenden Teil der Fragestellungen, die das OLG Hamburg in der vorliegenden Rechtssache aufwirft. Er schlägt dem EuGH vor, die Fragen des OLG Hamburg wie folgt zu beantworten:
Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26.02.2009 i.V.m. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind wie folgt auszulegen:
• Wenn die vollstreckende Justizbehörde über Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, ist sie verpflichtet, die echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, der der Betroffene aufgrund seiner Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der er wahrscheinlich inhaftiert sein wird, ausgesetzt wäre, unter Gesamtwürdigung aller hierfür maßgeblichen materiellen Aspekte der Haft zu beurteilen.
• Besonderes Augenmerk muss die vollstreckende Justizbehörde auf die Mindestfläche des persönlichen Raums legen, über den der Betroffene während seiner Haft verfügen wird. In Ermangelung unionsrechtlicher Vorgaben ist dieser Faktor nach Maßgabe der vom EGMR festgelegten Untergrenze zu bestimmen, die aber keine absolute Untergrenze darstellt.
• Bei der Bestimmung der Mindestfläche des dem Betroffenen zur Verfügung stehenden persönlichen Raums muss die vollstreckende Justizbehörde berücksichtigen, ob es sich bei der Zelle, in der der Betroffene wahrscheinlich untergebracht wird, um eine Einzel- oder um eine Gemeinschaftszelle handelt. Die Behörde hat den Raum, den das am Boden befindliche Mobiliar einnimmt, einzuschließen, die durch die Sanitärvorrichtungen eingenommene Fläche hingegen auszuschließen.
• Geht aus den vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen hervor, dass die Mindestfläche des dem Betroffenen zur Verfügung stehenden Raums 3m² oder weniger beträgt, muss die vollstreckende Justizbehörde ermitteln, ob die übrigen materiellen Aspekte der Haft den Mangel an persönlichem Raum angemessen kompensieren und die Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 der Charta widerlegen können. Insbesondere hat die Behörde zu prüfen, wie die Zelle, in der der Betroffene untergebracht werden wird, eingerichtet ist, ob die wesentlichen Leistungen und baulichen Anlagen der Haftanstalt allgemein angemessen sind, wieviel Bewegungsfreiheit der Betroffene hat und welches Angebot an Aktivitäten außerhalb der Zelle er wahrnehmen kann.
• Bei der Beurteilung dieser verschiedenen Aspekte sind auf jeden Fall Dauer und Umfang der Einschränkung, die Art der Haftanstalt, in der der Betroffene untergebracht werden wird, sowie das Strafvollzugsregime, dem er unterworfen sein wird, zu berücksichtigen.
• Die vollstreckende Justizbehörde kann auch gesetzgeberische und strukturelle Maßnahmen zur Verbesserung des Strafvollzugs im Ausstellungsmitgliedstaat berücksichtigen. Angesichts ihrer allgemeinen Wirkung können diese Maßnahmen allerdings als solche nicht die echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung kompensieren, der der Betroffene aufgrund seiner Haftbedingungen in der betreffenden Haftanstalt ausgesetzt wäre.
• Im Rahmen ihrer Beurteilung darf die vollstreckende Justizbehörde keine Abwägung zwischen einerseits dem Erfordernis, zu gewährleisten, dass der Betroffene keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 der Charta unterworfen wird, und andererseits den durch die Wahrung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung sowie die Wirksamkeit des dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Systems bedingten Erfordernissen vornehmen.
Pressemitteilung des EuGH v. 30.04.2019
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