Hier die Stellungnahme Nr. 3/16 im Wortlaut:
A. Tenor der Stellungnahme
Der Deutsche Richterbund begrüßt grundsätzlich die geplanten Änderungen der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, da mit ihnen einige nach bisheriger Gesetzeslage bestehende Strafbarkeitslücken geschlossen werden, gleichzeitig aber die bisherige Gesetzessystematik beibehalten bleibt, nach der sich die Strafwürdigkeit aus dem nötigenden Verhalten des Täters und/oder einer besonderen Schutzwürdigkeit des Opfers ergibt. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch in der praktischen Anwendbarkeit des § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E (Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung der Furcht des Opfers vor einem empfindlichen Übel).
Bestrebungen nach einer unterschiedslosen Ausweitung der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf alle Fälle, in denen der Täter sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers vornimmt, begegnen aus hiesiger Sicht hingegen grundlegenden Bedenken.
B. Bewertung im Einzelnen
Der Deutsche Richterbund begrüßt grundsätzlich die durch den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vorgesehenen Änderungen zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung, da mit ihnen einige nach bisheriger Gesetzeslage tatsächlich bestehende Strafbarkeitslücken geschlossen werden, gleichzeitig aber die bisherige Gesetzessystematik beibehalten bleibt, nach der sich die Strafwürdigkeit aus dem nötigenden Verhalten des Täters und/oder einer besonderen Schutzwürdigkeit des Opfers ergibt. Bestrebungen nach einer unterschiedslosen Ausweitung der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf alle Fälle, in denen der Täter sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers vornimmt, begegnen aus hiesiger Sicht hingegen grundlegenden Bedenken.
1. Durch die Erweiterung des § 179 StGB in der dargestellten Form werden Strafbarkeitslücken, die nach bisherigem Recht bestehen, geschlossen. Dies ist namentlich für Fälle wichtig, in denen der Täter das Überraschungsmoment zu sexuellen Übergriffen ausnutzt, die bisher allenfalls unter § 185 StGB subsumiert werden konnten. Insoweit ist jedoch der Entwurfsbegründung Recht zu geben, dass der Tatbestand der Beleidigung dem Unrechtsgehalt einer derartigen Straftat nicht ohne weiteres gerecht werden konnte. Durch die Einführung eines minderschweren Falls gemäß § 179 Abs. 1, 2. HS kann der Schwere des überraschenden sexuellen Übergriffs, die im Einzelfall stark variieren kann, aus hiesiger Sicht hinreichend individuell Rechnung getragen werden.
2. Nicht zuletzt aus gesetzessystematischen Erwägungen ist auch zu begrüßen, dass die bisherige Tatvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aus dem Tatbestand der sexuellen Nötigung herausgenommen und in den Missbrauchstatbestand des § 179 StGB-E eingefügt werden soll. Die nach dem Wortlaut des § 177 StGB vorausgesetzte Nötigungskomponente und das gegenüber anderen Fällen des sexuellen Missbrauchs gesteigerte Unrecht der Tat können für die Variante „Ausnutzung einer schutzlosen Lage“ nicht ohne weiteres bejaht werden, was in der Praxis zu einer teilweise restriktiven Handhabung und in der Folge zu einem Teil der bereits erwähnten, vielfach beklagten Strafbarkeitslücken geführt hat.
3. Gleichwohl ist zu befürchten, dass die Anwendung der Tatbestandsvariante „Ausnutzung einer Lage, in der eine andere Person im Fall ihres Widerstandes ein empfindliches Übel befürchtet“ (§ 179 Abs. 1 Nr. 3 StGBE) die Praxis vor erhebliche Probleme stellen dürfte. Denn der objektive Tatbestand erfordert, dass der Täter die Furcht des Opfers zur Vornahme der sexuellen Handlungen ausnutzt. Der Täter muss also die Lage des Opfers erkennen und sie sich bewusst zunutze machen, was voraussetzt, dass die Furcht des Opfers für den Täter erkennbar nach außen tritt. Nach der Entwurfsbegründung ist vorgesehen, dass eine zeitliche Kongruenz zwischen (unterlassenem) Widerstand und befürchtetem Übel nicht bestehen muss; es soll also ausreichen, dass das Opfer ein empfindliches Übel in fernerer Zukunft befürchtet. Auch soll es nicht auf ausdrückliche Äußerungen des Opfers ankommen, sondern es soll ausreichen, wenn der Täter aus den Gesamtumständen weiß, dass das Opfer Furcht vor einem empfindlichen Übel hat und deshalb den Widerstand unterlässt. So sollen Fälle, in denen das Opfer mit dem Täter in einem „Klima der Gewalt“ lebt, erfasst werden, wenn der Täter zwar im konkreten Fall weder Gewalt noch Drohungen anwendet, das Opfer aber aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit neuerliche Gewalt befürchtet und deshalb von vorneherein jeden Widerstand unterlässt.
Gerade in diesen Fällen – in denen nach derzeitiger Rechtslage eine relevante Strafbarkeitslücke besteht – wird der Tatnachweis im Einzelfall nur schwer gelingen. Denn der Täter wird sich in aller Regel darauf berufen, dass er mangels jeglicher ablehnenden Äußerung oder Handlung durch das Opfer von dessen Einverständnis ausgehen konnte. Diese Einlassung wird im Einzelfall nur schwer widerlegbar sein: Der Arbeitgeber muss nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass seine Arbeitnehmerin nur aus Angst vor Kündigung sexuelle Handlungen duldet, und auch in längeren Gewaltbeziehungen findet nicht jeder sexuelle Kontakt gegen den Willen des Opfers statt, sondern gewaltlose Phasen mit einvernehmlichem Sexualkontakt können sich mit Zeiten der Gewalt abwechseln.
Es steht daher zu befürchten, dass durch die geplante Ausweitung des Missbrauchstatbestands gemäß § 179 Nr. 3 StGB-E zwar eine Strafbarkeitslücke formal geschlossen wird, in vielen der darunter zu subsumierenden Fällen jedoch eine Ahndung des Täters am Nachweis scheitern wird.
4. Soweit der Gesetzentwurf Überlegungen zu einer grundlegenden Reform der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ankündigt, um die Vorgaben von Art. 36 der Istanbul-Konvention (Strafbarkeit jeglicher sexueller Handlungen gegen den erklärten Willen des Opfers) noch besser umzusetzen, ist aus hiesiger Sicht insbesondere im Lichte der bereits oben skizzierten Erwägungen der praktischen Anwendbarkeit Zurückhaltung anzuraten.
Zwar ist zutreffend, dass von der geplanten Neuregelung auch künftig Fälle nicht erfasst sind, in denen das Opfer zwar mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist, diese aber gleichwohl über sich ergehen lässt, ohne dass der Täter hierfür ein Nötigungsmittel anwendet, oder besondere Umstände i.S. des § 179 Abs. 1 StGB-E (Widerstandsunfähigkeit, Überraschung, Furcht) ausnutzt. Dies ist in Fachkreisen teilweise kritisiert worden. Nach wie vor gebe es Fallkonstellationen, in denen der Täter den ausdrücklich erklärten Willen der Betroffenen übergehe, sein Verhalten aber gleichwohl straflos bleibe, was nicht mit Art. 36 der Istanbul-Konvention übereinstimme.
Dieser Kritik ist aus hiesiger Sicht nicht beizupflichten. Schon die Beispiele, die für die behaupteten Strafbarkeitslücken genannt werden, können m.E. nicht überzeugen: Zitiert werden hier beispielsweise
Fälle, in denen das Tatopfer nach zunächst einvernehmlich begonnenem Geschlechtsverkehr seine Meinung ändert und den Täter auffordert, aufzuhören, was dieser aber nicht tut. Gewalt oder Drohungen werden nicht angewandt, das Opfer wehrt sich auch nicht, und zwar nicht deshalb, weil es seine Lage als „schutzlos“ empfindet oder sonst zum Widerstand unfähig ist, sondern weil es sich schämt, sich mitschuldig fühlt, und auch – ohne konkreten Anlass – glaubt, es könne vielleicht im Falle von Gegenwehr zu Gewalthandlungen kommen,
Fälle, in denen das Opfer für den Täter unerkannt Furcht vor Gewalt hat, weil es weiß, dass der Täter anderen gegenüber bereits gewalttätig geworden ist,
Fälle, in denen das Opfer aus Gründen der Erziehung oder inneren Einstellung schweigt und zwar durch Kopfschütteln sein mangelndes Einverständnis zeigt, die Tat aber dennoch gegen seinen Willen über sich ergehen lässt. Zwar wird es ohne Zweifel auch nach der geplanten Gesetzesänderung im Einzelfall außergewöhnliche Konstellationen geben, in denen ein eigentlich strafwürdiger Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung eines Opfers straffrei bleibt. Dennoch ist vor einer grenzenlosen Ausweitung der Strafbarkeit auf alle Fälle nicht einvernehmlicher sexueller Handlungen zu warnen.
Zum einen würde eine solche Ausweitung erfordern, den Grundtatbestand der nicht einvernehmlichen sexuellen Handlung zum Vergehen herabzustufen und nur mit vergleichsweise niedriger Strafdrohung zu belegen. Das bisherige klare Bekenntnis des Gesetzgebers zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, das auch durch die Einstufung des § 177 als Verbrechenstatbestand zum Ausdruck kommt, würde so verwässert; es bestünde die Gefahr einer Marginalisierung schwerster Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (denn der Grundtatbestand ist ja nur ein „harmloses Vergehen“), die von der behaupteten Chance der Aufwertung des Opferwillens nicht aufgewogen werden könnten.
Zum anderen ergäben sich bei einer derart massiven Ausweitung der Strafbarkeit aber auch erhebliche Probleme beim Tatnachweis, die in der Praxis kaum lösbar erscheinen. Wie deutlich muss das Tatopfer sein „Nein“ äußern? Auch außerhalb aller Klischees gibt es wohl viele Fälle, in denen einer der beiden Sexualpartner den anderen erst zu den gewünschten sexuellen Handlungen überreden muss, und dazu nicht nur die Kraft seiner Argumente, sondern unter Umständen auch die erhoffte Verführungswirkung sexueller Handlungen einsetzt. Wäre ein solcher Fall dann bereits strafbar, wenn sich das „Opfer“ zu Beginn des Geschehens ablehnend äußert, in der Folge aber scheinbar willig alle sexuellen Handlungen des Täters über einen längeren Zeitraum hinweg duldet? Welche Anforderungen sind an den Täter zu stellen, in einer solchen Situation wegen der eingangs geäußerten Ablehnung in der Folge etwaige geheime Vorbehalte des Opfers zu eruieren? Wie ist nachzuweisen, dass, wann und mit welcher Deutlichkeit das Opfer seine Ablehnung zum Ausdruck gebracht hat? Sicher gilt auch hier, was bei strafrechtlichen Gesetzesänderungen immer wieder vorgebracht wird: Praktische Nachweisprobleme dürfen kein generelles Argument gegen jede Gesetzesänderung sein, ein Gesetz, bei dem sich diese Probleme aber evident aufdrängen, kann indes keine abschreckende Wirkung entfalten und hilft potenziellen Opfern nicht.
Schließlich darf ein weiterer Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Bei allem Bemühen um den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und um eine effektive Ausweitung des Opferschutzes gerade in diesem Bereich, darf doch die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln nicht in Vergessenheit geraten. Den Schutz der Rechtsordnung braucht der Einzelne auch im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung nur da, wo er nicht frei und ungehindert selbst entscheiden und handeln kann. Einer Ausweitung der Vorschriften des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB auf alle Fälle nicht einvernehmlicher sexueller Handlungen sollte daher mit Vorsicht begegnet werden.
Quelle: Pressemitteilung des DRB v. 19.01.2016
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