Das BVerfG hat einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung des OLG München im Strafverfahren gegen Müslüm E. und weitere Angeklagte teilweise stattgegeben, mit der sich die Antragstellerinnen gegen die Beschränkung der Anfertigung von Bildaufnahmen am Rande der Hauptverhandlung wandten.
Das OLG München verhandelt seit dem 17.06.2016 gegen insgesamt zehn Personen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung („Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten“). Bis zum 09.01.2017 sind insgesamt 34 Verhandlungstage terminiert. Am 06.06.2016 erließ der Vorsitzende eine sitzungspolizeiliche Anordnung, mit der unter anderem die Zulässigkeit der Anfertigung von Ton-, Film- und Bildaufnahmen am Rande der Hauptverhandlung geregelt wurde. Mit Verfügung vom 15.06.2016 ergänzte der Vorsitzende die sitzungspolizeiliche Anordnung um ein Anonymisierungsgebot („Verpixelungsanordnung“). Gegen diese beiden Verfügungen erhoben die Antragstellerinnen Verfassungsbeschwerde verbunden mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom 08.07.2016 (1 BvR 1534/16) hat das BVerfG eine einstweilige Anordnung erlassen und die Regelungen zur Anfertigung von Ton-, Film- und Bildaufnahmen teilweise ausgesetzt, weil der Vorsitzende in seinen Verfügungen die für seine Entscheidung maßgebenden Gründe nicht offengelegt hatte (BVerfG, Beschl. v. 06.09.2016 – 1 BvR 2001/16 zu einer gleichartigen, ebenso unbegründeten Verfügung des OLG München). Daraufhin erließ der Vorsitzende am 28.07.2016 eine sitzungspolizeiliche Anordnung, mit der die Regelungen zur Anfertigung von Ton-, Film- und Bildaufnahmen vom 06.06.2016 in ähnlicher Weise, aber nun mit Gründen versehen, neu gefasst wurden. Die Neuregelung enthält ein Verbot der Bildaufnahme der Verfahrensbeteiligten, soweit diese erkennbar ihre Ablehnung hiergegen zum Ausdruck bringen, eine Einschränkung der Ablichtung der Mitglieder des erkennenden Spruchkörpers auf insgesamt drei konkret bezeichnete Termine sowie ein Anonymisierungsgebot („Verpixelungsanordnung“) bezüglich dreier Angeklagter. Die sitzungspolizeiliche Verfügung vom 15.06.2016 wurde aufgehoben. Mit ihrer weiteren Verfassungsbeschwerde rügen die Antragstellerinnen eine Verletzung ihrer Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und beantragen die Aussetzung der Wirksamkeit der angefochtenen Verfügungen vom 28.07.2016 im Wege der einstweiligen Anordnung.
Der Eilantrag war vor dem BVerfG teilweise erfolgreich: Das BVerfG hat das vom OLG München verfügte Verbot der Bildaufnahme der Verfahrensbeteiligten, soweit diese erkennbar ihre Ablehnung hiergegen zum Ausdruck bringen, und die Einschränkung der Ablichtung der Mitglieder des erkennenden Spruchkörpers auf insgesamt drei konkret bezeichnete Termine bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, in ihrer Wirksamkeit ausgesetzt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:
Soweit sich die Antragstellerinnen gegen die Beschränkungen der Bildberichterstattung wenden, die über die Anonymisierungsanordnung hinausgehen, wäre die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
1. Anordnungen des Vorsitzenden, mit denen die Anfertigung von Bildaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung untersagt oder Beschränkungen unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit dar. Beim Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende einerseits die Pressefreiheit und andererseits den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beteiligten, aber auch den Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege zu beachten. Damit liegt es vom Grundsatz her nicht allein in der freien Entscheidung der Beteiligten, darüber zu entscheiden, ob Presse- und Rundfunk über sie berichten und sie dabei ablichten.
2. Diesen Maßstäben wird die angegriffene Anordnung hinsichtlich der Ziffern I. und II. nicht gerecht.
a) Das Grundrecht der Pressefreiheit ist verletzt, soweit die Anordnung des Vorsitzenden die Entscheidung über eine Bildberichterstattung allein in die Hand der Beteiligten legt. Zudem ist ein vollständiges Verbot von Ton- und Bildaufnahmen nicht erforderlich, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch eine beschränkende Anordnung Rechnung getragen werden kann. Weil angesichts des Tatvorwurfs sowie der politischen Geschehnisse in der Türkei von einem gewichtigen Informationsinteresse der Öffentlichkeit auszugehen ist, hätte die Gefahr einer Identifizierung der abgebildeten Person durch die breite Öffentlichkeit durch eine Anonymisierungsanordnung in verhältnismäßiger Weise ausgeschlossen werden können.
b) Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit richtet sich regelmäßig nicht allein auf die Angeklagten und die ihnen zur Last gelegten Taten, sondern auch auf die Personen, die als Mitglieder des Spruchkörpers an der Rechtsfindung im Namen des Volkes mitwirken. Die bloße Lästigkeit der Anwesenheit von Presse und Rundfunk und damit verbundene Auswirkungen auf die Flüssigkeit des Verfahrensablaufs rechtfertigen das Verbot der Erstellung von Bildaufnahmen nicht. Soweit in der Begründung der Anordnung darauf verwiesen wird, dass es den Sitzungsablauf erheblich beeinträchtigen würde, wenn an jedem Sitzungstag abgewartet werden müsse, bis Fotografen und Kameraleute ihre Aufnahmen beenden, um mit der Sitzung beginnen zu können, begründet dies keine verhältnismäßige Einschränkung der Presse- und Rundfunkfreiheit.
3. Soweit sich die beantragte einstweilige Anordnung gegen die Anonymisierungsverfügung (Ziffer III.) richtet, ist sie abzulehnen. Die abschließende Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Verfügung ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich. Sie verlangt eine Berücksichtigung zahlreicher Einzelumstände, sodass hierüber erst im Hauptsacheverfahren über die Verfassungsbeschwerde entschieden werden kann. Deshalb muss das BVerfG für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Folgenabwägung vornehmen.
Würde die beantragte Anordnung ergehen, die Verfassungsbeschwerde aber später erfolglos bleiben, wären die Nachteile für die Angeklagten erheblich. Sie würden weiter in die Öffentlichkeit gezogen, als es Presse- und Rundfunkfreiheit verlangen, ohne dass sich dies wirksam rückgängig machen lässt. Müssen die Angeklagten im Falle einer Fernsehberichterstattung ihr nicht anonymisiertes Bildnis zeigen, kann hierin eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Persönlichkeitsrechts liegen. Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, wenn die einstweilige Anordnung zu diesem Teil der Verfügung nicht ergeht und die Verfassungsbeschwerde später erfolgreich wäre. Die sitzungspolizeiliche Anordnung untersagt die bebilderte Berichterstattung aus dem Sitzungssaal nicht generell, sondern beschränkt sie lediglich im Hinblick darauf, dass die betreffenden Angeklagten zu anonymisieren sind. Damit wird dem öffentlichen Informationsinteresse und den Belangen der Pressefreiheit jedenfalls weitgehend Rechnung getragen. Hinzu kommt, dass sich von den Angeklagten zahlreiche Bilder im Umlauf befinden, auf die die Presse möglicherweise zurückgreifen kann.
Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 63/2016
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