Das BVerfG hat einer Beschwerde des Angeklagten im Frankenthaler Babymordprozess, der seit fast drei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, stattgegeben und angeordnet, dass die Untersuchungshaft erneut überprüft wird, da die zuständige Kammer in Frankenthal nicht oft genug terminiert habe.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit Mai 2016 in Untersuchungshaft. Im August 2016 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Geiselnahme in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung. Im Oktober 2016 ließ die zuständige Strafkammer des Landgerichts die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Haftfortdauer an. Die Hauptverhandlung begann zunächst im November 2016. Bis September 2017 waren 25 Verhandlungstage terminiert. Nach 23 Verhandlungstagen erkrankte die Vorsitzende im August 2017 dauerhaft dienstunfähig. Die Kammer setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus. Die Hauptverhandlung begann nach Übernahme der Kammer durch einen neuen Vorsitzenden erneut im Dezember 2017. Bis August 2018 wurde an 25 Tagen, bis November 2018 wurde an vier weiteren Tagen verhandelt. Bis zum 31.01.2019 sind weitere 15 Termine bestimmt.
Die Strafkammer zeigte mehrmals ihre Überlastung an. Zwischenzeitlich wies das Präsidium der Kammer eine weitere Beisitzerin mit einem Arbeitskraftanteil von 0,2 zu, und es wurden Haftsachen, in denen eine Hauptverhandlung noch nicht begonnen hatte, anderen Strafkammern zugewiesen. Allerdings verhandelte die Kammer zeitgleich in zwei weiteren umfangreichen Haftsachen. Im August 2018 legte der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers Haftbeschwerde ein, mit der er einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot rügte. Das Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde durch den vorliegend angegriffenen Beschluss vom 16.10.2018 (1 Ws 214/18) als unbegründet.
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben.
Nach Auffassung des BVerfG ist der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt. Die Terminierung der 1. Großen Strafkammer des LG Frankenthal (Pfalz) in der gegen den Beschwerdeführer geführten Hauptverhandlung genüge nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte. Zudem enthalte der Haftfortdauerbeschluss keine tragfähige Begründung, die ausnahmsweise dennoch die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte. Das BVerfG hat die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, das unter Beachtung der Ausführungen des BVerfG erneut darüber zu entscheiden haben wird, ob der Beschwerdeführer weiter in Untersuchungshaft bleibt.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG.
- Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt der Dauer der Untersuchungshaft auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei desto strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Die Untersuchungshaft kann dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Sie kann selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist, unterliegen Haftfortdauerentscheidungen zudem einer erhöhten Begründungstiefe.
- Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des OLG Zweibrücken nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten.
a) Die Terminierung der Strafkammer des Landgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte nicht. Die Strafkammer hat in jedem Betrachtungszeitraum weit seltener als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche verhandelt, zuletzt an nur 0,65 Tagen pro Woche. Die Verhandlungsdichte sinkt noch weiter unter diesen Wert, wenn man die Sitzungstage nicht einbezieht, an denen nur kurze Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wurde. Die vom Präsidium des Landgerichts als Reaktion auf die Überlastungsanzeigen getroffenen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache nunmehr innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert worden wäre.
b) Der Beschluss des OLG Zweibrücken enthält keine tragfähige Begründung, die ausnahmsweise – trotz der ungenügenden Verhandlungsdichte – die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte.
Das Oberlandesgericht hat nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die erschwerte Terminfindung ihre Ursache allein in dem konkreten Strafverfahren hatte und nicht vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer neben dem gegenständlichen Verfahren mehrere weitere, teilweise umfangreiche Haftsachen zu bewältigen und daher ohnehin keine freien Verhandlungskapazitäten mehr zur Verfügung hatte.
Die vom Oberlandesgericht im Übrigen angeführten Gesichtspunkte – namentlich die Komplexität des Verfahrens, die äußerst schwerwiegenden Tatvorwürfe und die Verfahrensverzögerungen wegen des Verhaltens des Verteidigers – mögen zwar die Untersuchungshaft als solche und die Anzahl der benötigten Hauptverhandlungstage und deren Dauer rechtfertigen, nicht jedoch das Unterlassen einer dichteren Terminierung. Auch die Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden kann als unvorhersehbares, schicksalhaftes Ereignis zwar ausnahmsweise die Fortdauer der Untersuchungshaft auch während der erforderlich werdenden neuen Hauptverhandlung rechtfertigen, nicht aber eine durchgehend zu geringe Termindichte. Auch verhält sich der Beschluss nicht dazu, ob die Belastungssituation der Strafkammer nachweislich unvorhersehbar und somit unvermeidbar war, oder ob die Strafkammer bereits vorher dauerhaft, nicht nur vorübergehend überlastet war und damit letztlich eine unzureichende Personalausstattung oder -verwaltung die wesentliche Ursache für die lange Verfahrensdauer ist. Dabei ist zu beachten, dass es nicht Aufgabe eines Gerichts sein kann, eine strukturell zu geringe Personalausstattung oder eine dauerhafte Überlastung mit Haftsachen durch einen langfristig überobligatorischen Arbeitseinsatz oder eine langfristige Beschränkung ihrer Verhandlungskapazitäten ausschließlich auf Haftsachen zu kompensieren. Überdies setzt sich der angegriffene Beschluss nicht mit den von der Justizverwaltung aus Anlass der Überlastungsanzeigen jeweils getroffenen Abhilfemaßnahmen auseinander. Das Oberlandesgericht wäre insoweit gehalten gewesen, ausgehend von der tatsächlichen Belastungssituation der Strafkammer darzulegen, inwieweit die jeweils von der Justizverwaltung getroffenen Maßnahmen nach Art, Zielrichtung und Umfang rechtzeitig, geeignet und hinreichend wirksam waren, um die Voraussetzungen für eine dem Beschleunigungsgebot genügende Verfahrensgestaltung (wieder)herzustellen.
Für den Fall, dass sowohl eine außergewöhnliche, unvorhersehbare Belastungssituation der Strafkammer anzunehmen ist als auch die Reaktionen der Justizverwaltung hierauf jeweils als ausreichend zu erachten sind, wäre schließlich darzulegen gewesen, ob die – nach Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden neu besetzte – Strafkammer im Rahmen der neu begonnenen Hauptverhandlung das vorliegende Verfahren unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich hinreichend beschleunigt betrieben hat und etwaige Verfahrensverzögerungen ihre Ursache ausschließlich in dem konkreten Strafverfahren haben.
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 6/2019 v. 25.01.2019
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